Shirley Jackson war eine begnadete Erzählerin des Horrors (2024)

Sie beschrieb das hinter den bürgerlichen Kulissen lauernde sanfte Grauen und war eine Spezialistin für schauerliche Szenarien. Jetzt ist die 1965 verstorbene Autorin neu zu entdecken.

Oliver Camenzind

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Eine Frau steht kurz vor ihrer dritten Entbindung. Doch bevor sie ins Krankenhaus fahren kann, bereitet sie das Frühstück für ihre Familie und spült das Geschirr. Ohne die Hausherrin, so sieht es aus, wird in dieser Familie gar nichts klappen. Es folgen ein paar letzte pädagogische Anweisungen an die Adresse des Ehemannes, der mit den beiden Kindern vollkommen überfordert sein dürfte. Dann erst, im allerletzten Moment, wird das Taxi gerufen, das die Hochschwangere ins Spital bringt.

Die Frau, um die es hier geht, heisst Shirley Jackson. Sie war Schriftstellerin in den Vereinigten Staaten der 1940er und 1950er Jahre: Die Szene rund um die Geburt ihres dritten Kindes ist in einem ihrer autobiografischen Romane nachzulesen, der nun unter dem Titel «Krawall und Kekse» (im Original: «Life Among the Savages») in der deutschen Übersetzung von Nicole Seifert erschienen ist.

Mörderische Lotterie

«Krawall und Kekse» entstand aus Kurzgeschichten, die Jackson 1953 zu einer geschlossenen Erzählung umgearbeitet hat. Als Ausgangsmaterial dienten ihr Kolumnen, die sie regelmässig und gegen gute Bezahlung für Zeitschriften wie «Harper’s», «Mademoiselle» oder «Good Housekeeping» geschrieben hatte. Sie schilderte darin Episoden aus ihrem Leben als Mutter und Ehefrau, es ging um Ärger und Freuden des Alltags.

Das war die Geburtsstunde dessen, was heute «Mama-Blog» heisst und in vielen Magazinen zu den festen Rubriken gehört. Insofern haben die Geschichten visionären Charakter. Doch die häuslichen Themen mehrten nicht etwa den literarischen Ruhm der Autorin, eher standen sie dem Erfolg im Weg.

Zum ersten Mal hatte Shirley Jackson 1943 im «New Yorker» auf sich aufmerksam gemacht, da war sie erst 27 Jahre alt. Fünf Jahre später sorgte sie mit der Kurzgeschichte «Die Lotterie» für Furore. Sie erzählte darin von einem erfundenen Volksritual. Die Bewohner eines namenlosen Dorfes ermitteln in einer Verlosung einen «Gewinner», der von den anderen Bürgern durch Steinigung getötet wird. Mit Motiven aus der Horrorliteratur und stilistischen Anleihen beim American Gothic erschuf Jackson eine finstere Welt, die auf bedrückende Weise der Realität glich.

Unter den Lesern des «New Yorker» löste Jackson mit der Erzählung einen gewaltigen Sturm der Entrüstung aus. Der in die Gegenwart verlegte pseudomythische Stoff mit dem Gewaltausbruch einer anscheinend unzivilisierten wilden Horde verletzte den Nationalstolz und die Gefühle des amerikanischen Publiku*ms. Angeblich hatte die Zeitschrift bis dahin noch nie so viele Reaktionen auf einen literarischen Beitrag bekommen.

Das hätte der Beginn einer grossen Karriere sein können. Doch Jackson hatte einen Haushalt mit bald vier Kindern, drei Katzen und einem Hund zu organisieren. Ihr Mann trug als Literaturwissenschafter nur wenig zum Einkommen bei. Darum war sie auf die Honorare von «Harper’s» und anderen Magazinen angewiesen.

An den Erfolg von «The Lottery» konnte Jackson nur noch zweimal anknüpfen. «The Haunting of Hill House» von 1959 wurde gleich mehrere Male verfilmt. Und «We Have Always Lived in the Castle» von 1962 war ein wichtiger Einfluss für nachfolgende Autoren, unter ihnen Stephen King. Doch die zeitgenössische Rezeption war weniger euphorisch: Das «Time»-Magazin verlieh Shirley Jackson den herablassenden Übernamen Virginia Werwolf.

Wiederentdeckung des Werks

Bei ihren Leserinnen hingegen waren die stilbildenden «Mama-Blogs» ausserordentlich beliebt. Shirley Jackson selbst jedoch hatte keine hohe Meinung davon. Sie bezeichnete sie als minderwertige Geldarbeit. Und die Literaturkritik? Sie schloss sich dem Urteil der Autorin an. Jackson wurde höflich ignoriert, kaum gefördert und erhielt keinen einzigen Literaturpreis. Die autobiografischen Zeitungsartikel wurden gar nicht als Literatur wahrgenommen, und ihre Horrortexte tat man zumeist als Unterhaltung ab.

Seit kurzem erfährt das Werk von Shirley Jackson eine Renaissance. Es wird wieder vermehrt gelesen und neu beurteilt. Ihr heutiges Publikum schätzt sie als vielseitig begabte Autorin. Die Wiederentdeckung kam zu spät für Jackson, die schon 1965 verstarb.

Heute sieht man keinen grossen Unterschied mehr zwischen Jacksons Geldarbeiten und ihrem ambitionierteren Schreiben. Beide Teile ihres Werks zeichnen sich durch ein erstaunlich gutes Gespür für den herrschenden Zeitgeist aus. Immer wirft Shirley Jackson einen scharfen Blick hinter die Kulissen der biederen Bürgerlichkeit, wo unter akkurat gebügelten Hemden und selbstgebackenen Keksen der Schrecken lauert.

Die Reaktionen auf «The Lottery» hatten bewiesen, dass Jackson mit Geschichten, die in einer verfremdeten Horrorwelt spielen, reale Ängste in den Lesern aufzugreifen und zu thematisieren vermochte. In den autobiografischen Stücken kommen die Abgründe hinter den Bollwerken der Zivilisation zwar weniger bedrohlich daher, es geistert dafür ein subtiler Sarkasmus durch die Zeilen.

Shirley Jackson: Krawall und Kekse. Aus dem amerikanischen Englisch und mit einem Nachwort von Nicole Seifert. Verlag Arche Literatur, Hamburg 2022. 256S., Fr. 33.90.

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Rainer Moritz

Shirley Jackson war eine begnadete Erzählerin des Horrors (2024)

FAQs

Wie starb Shirley Jackson? ›

Was hat Shirley Ann Jackson gemacht? ›

Die Forschung der Physikerin Shirley Ann Jackson hat zur Erfindung von Glasfaserkabel, Anruferkennung und Solarzellen geführt. Als erste Schwarze Frau mit einem Doktortitel vom Massachusetts Institute of Technology setzt sie sich auch für mehr Diversität in der Forschung ein.

Wie heißt Shirley in echt? ›

Einzelnachweise
Personendaten
NAMEMacLaine, Shirley
ALTERNATIVNAMENMacLean Beatty, Shirley (wirklicher Name)
KURZBESCHREIBUNGUS-amerikanische Filmschauspielerin, Tänzerin und Schriftstellerin
GEBURTSDATUM24. April 1934
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Wer war Shirley Templeton? ›

Shirley Jane Temple (* 23. April 1928 in Santa Monica, Kalifornien; † 10. Februar 2014 in Woodside, Kalifornien) war eine US-amerikanische Schauspielerin, Sängerin, Tänzerin und Diplomatin.

Wie starb Shirley Temple? ›

Wie viele Geschwister leben noch von Michael Jackson? ›

Michael Jackson kam als achtes von insgesamt zehn Geschwistern zur Welt. Sein älterer Bruder Brandon verstarb jedoch kurz nach der Geburt.

Was macht die Mutter von Michael Jackson? ›

Katherine Esther Jackson (* 4. Mai 1930 in Barbour County, Alabama, als Kattie B. Screws; später Scruse) ist eine US-amerikanische Autorin.

Wie war Michael Jackson tot? ›

Wo ist Shirley? ›

Shirley ist eine Town im Piscataquis County des Bundesstaats Maine in den Vereinigten Staaten. Im Jahr 2020 lebten hier 251 Einwohner in 226 Haushalten.

Welchen Namen trug die Schauspielerin Shirley Temple nach ihrer Hochzeit 1950? ›

Die Schauspielerin wurde am 23. April 1928 als Shirley Jane Temple Black in Santa Monica, Kalifornien, geboren. Mit drei Jahren bekam sie ihren ersten Tanzunterricht und wurde von dem Regisseur Charles Lamont entdeckt.

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